Transgenerationale Traumata in unserer psychobiografischen Arbeit

Wie stark bestimmen traumatisierte Eltern und Verwandten die Gefühlswelt und die Betrachtungsweisen ihrer Kinder?

Ein schwarzer Schatten mit Händen schauen aus dem Zugfenster

Die derzeitigen Bewohnerinnen und Bewohner unserer Pflegeeinrichtungen gehören der Kriegs- und Nachkriegsgeneration an; geprägt von Eltern, die selbst in einer Nachkriegszeit mit Hyperinflation, den „Goldenen Zwanzigern“ und Weltwirtschaftskrise aufgewachsen waren, einen verbrecherischen Staat durchleben mussten und Holocaust, Krieg und Vertreibung überlebten, selbst traumatisiert waren.

Für die Eltern unserer Bewohner:innen war es daher oft schwer bis unmöglich, sich emotional zu öffnen und ihren Kindern lebensbejahende Gefühle zu spiegeln. Für eine gesunde seelische Entwicklung von Kindern ist es aber existenziell wichtig, Liebe und nicht emotionale Gleichgültigkeit und Stummheit gespiegelt zu bekommen, die eigenen Bedürfnisse geachtet und nicht vernachlässigt zu wissen, Vertrauen aufbauen zu können und nicht Misstrauen und Angst kennenlernen zu müssen, sich auch als Kind als ein wertgeschätzter und respektierter Mensch zu erfahren.

Um den Bedürfnissen unserer Bewohner:innen gerecht zu werden, müssen wir in unserer psychobiografischen Arbeit immer diesen transgenerationalen Aspekt berücksichtigen und der Frage nachgehen, wie stark die selbst traumatisierten Eltern und Verwandten die Gefühlswelt und die Betrachtungsweisen der Kinder bestimmten; wie frei oder unfrei diese in ihrem Fühlen, Denken und Handeln waren.

Gerade den Kindern traumatisierter Eltern fiel es schwer, ihr ICH zu finden und bei sich anzukommen, ihre nicht selten vorhandene Ruhe- und Rastlosigkeit abzulegen, liebevoll, mitfühlend und bindungsfähig zu werden.

Oft überforderten sie sich und ihre Ressourcen, übten Berufe aus, nur um ihren Eltern zu gefallen, suchten in ihrem sozialen Umfeld verzweifelt die Wertschätzung und Anerkennung, welche sie von ihren Eltern nicht ausreichend bekommen hatten.

Manchmal scheiterten sie auch suizidal wie von Anja Reich in ihrem Buch „Simone“ erzählt, das unter „Tipps & Links“ zu finden ist.

Ebenfalls dort zu finden ist die Geschichte von Michel Friedman in seinem Buch „Fremd“. Er ist das Kind zweier Holocaustüberlebender und wuchs in Frankreich und Deutschland auf. Sein Buch widmete er allen Menschen, die irgendwo im Nirgendwo leben.

Ebenfalls dort zu finden ist das Buch „Du wirst noch an mich denken – Liebeserklärung an eine schwierige Mutter“ von Dorothee Röhrig. Ihre Mutter war 18, als deren Vater Hans von Dohnanyi am 9. April 1945 hingerichtet wurde.

Seit vielen Jahren beschäftigt sich die Therapeutin Ingrid Meyer – Legrand mit den Seelenschmerzen von Kriegskindern. Ihre Erkenntnisse legte sie in ihren Büchern nieder, so in „Die Kraft der Kriegsenkel: Wie Kriegsenkel heute ihr biografisches Erbe erkennen und nutzen“, „Kriegsenkel: Endlich ankommen! Neue Zukunftperspektiven durch die Versöhnung mit deiner Geschichte“, „Kriegsenkel in Therapie und Beratung – Vom Leid zur Ressource“.

All diese Bücher zeigen, dass es nicht unbedingt eines Schockerlebnisses bedarf. Es können gleichfalls transgenerationale Kindheitserfahrungen sein, die zu Traumata und seelisch ungesunden Verhaltensweisen führen. Auch sind derartige Erfahrungen Risikofaktoren für psychische Störungen und gerontopsychiatrische Krankheitsbilder.

Das Wissen um transgenerationale Einflüsse in unserer psychobiografischen Arbeit ist wichtig für eine wertschätzende und angemessene Pflege und Betreuung gerade gerontopsychiatrisch veränderter Menschen.

4 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort

  • Johannes Richter
    26. April 2024 12:28

    Wie die Anamnesearbeit in der Heilkunde unverzichtbar ist, so stellt die psychobiografische Arbeit einen Grundpfeiler gerontopsychiatrischer Pflege und Betreuung dar.

    Warum ist das so?

    Demenz ist die Krankheit des Vergessens.
    Im Gegensatz zu ihrem Kurzzeitgedächtnis ist bei demenziell erkrankten Menschen aber das Langzeitgedächtnis noch lange abrufbar, was bedeutet, dass gerade für sie Regressionsprozesse symptomatisch sind.
    So kehren die Betroffenen in ihre biografischen Erinnerungen zurück. Zurück in freudige Erlebnisse, prägende Ereignisse, aber auch traumatische von Verlust, Angst oder seelischer Verletzung. Sie bilden den Hauptinhalt ihrer „neuen“ Lebenswelten.

    Für unsere psychobiografische Arbeit ist uns Erwin Böhm mit seinem psychobiografischen Pflegemodell Grundlage und Anleitung.
    Sein Modell zielt auf die Seele. Die mit den biografischen Geschehnissen verknüpften Gefühle nehmen in seinem Modell den zentralen Platz ein. Insofern beinhaltet es, die Altersseele der Betroffenen wiederherzustellen und aufrechtzuerhalten, will heißen, durch eine reaktivierende Pflege und Betreuung deren persönliche Normalität zu wahren und bei Traumata sensibel zu berücksichtigen.

    Als Anschauungsbeispiele für gelungene Psychobiografien außerhalb gerontopsychiatrischer Arbeit seien die von Stefan Zweig verfassten über Honore de Balsac, Fjodor Dostojewski und Sigmund Freud genannt und zur Lektüre empfohlen.

    Antworten
  • Johannes Richter
    10. Mai 2024 09:12

    Aus der Soziologie wissen wir, dass die Abfolge von Großeltern, Kindern und Enkelkindern nicht nur als familiäre Weitergabe von Werten, Erfahrungen und eben auch Traumata zu verstehen ist.
    Sie wird ebenfalls bestimmt durch die Zugehörigkeit zu einer Generation und ist eingebettet in deren eigenständigen Einfluss.
    Die Angehörigen werden geprägt durch ihre Generationsidentität, will heißen durch gemeinsame Erlebnisse, einen gemeinsamen Zeitgeist, ein gemeinsames Selbstbild und Verhältnis von Ich und Wir.

    Die Generation der Eltern unserer Bewohnerinnen und Bewohner bzw. Patient:innen durchlebte existenzielle Umbrüche, Gewalt, Entbehrung, Ideologisierung, Desillusionierung, Zerstörung und Aufbau.
    Daraus speiste sich ihr sprichwörtlicher Konservatismus.
    Ihre Angehörigen legten Wert auf Stabilität, Disziplin, Tradition und Ordnung.
    Über ihre Erlebnisse und Erfahrungen sprachen sie wenig bis gar nicht.
    Zu ihrem Selbstbild gehörte der Wille zu harter Aufbauarbeit.
    In ihrem Verhältnis von Ich und Wir dominierte der Gemeinsinn.

    Unsere derzeitigen Bewohner:innen und Patient:innen gehören zunehmend den sogenannten Babyboomern an.
    Sie sind die Generation der Aufarbeitung oder Rebellion gegen die Verdrängung der Lehren aus der Zeit des Nationalsozialismus‘
    Sie sind die Kinder von Frieden und technischem Fortschritt wie Fernsehen und automobile Mobilität.
    Sie sind aber auch die Kinder des kalten Krieges zwischen zwei sich antagonistisch gegenüberstehenden Gesellschaftssystemen.

    Antworten
  • Johannes Richter
    10. Mai 2024 11:51

    Die nachfolgenden Generationen X, Y, Z und Alpha zeichnet als Gemeinsamkeit aus, dass sie mit Innovationen in der elektronischen Dimension bis hin zu virtuellen Wirklichkeiten aufgewachsen und vertraut sind.
    Diese Dimension des wissenschaftlich – technischen Fortschritts brachte einen neuen Persönlichkeitstypus hervor.
    In seinem Buch „Ich und Wir – Psychoanalyse des postmodernen Menschen“ macht Rainer Funk als Erster den Versuch, dessen Profil psychoanalytisch zu beleuchten.
    Sein Buch erschien 2005 im Deutschen Taschenbuch Verlag.

    Antworten
  • Johannes Richter
    28. Mai 2024 12:05

    In ihrer Ausgabe vom 27. Mai 2024 erschien in der Leipziger Volkszeitung ein Interview mit Bundesgesundheitsminister Lauterbach.
    Darin heißt es: „In den letzten Jahren ist die Zahl der Pflegebedürftigen geradezu explosionsartig gestiegen. Demografisch bedingt wäre 2023 nur mit einem Zuwachs von rund 50.000 Personen zu rechnen gewesen. Doch tatsächlich beträgt das Plus über 360.000. Eine so starke Zunahme in so kurzer Zeit muss uns zu denken geben…..
    Ich gehe davon aus, dass wir einen Sandwicheffekt erleben: Zu den sehr alten, pflegebedürftigen Menschen kommen die ersten Babyboomer, die nun ebenfalls pflegebedürftig werden. Es gibt also erstmals zwei Generationen, die gleichzeitig auf Pflege angewiesen sind: die Babyboomer und deren Eltern.“

    Die Pflegeeinrichtungen sind demzufolge gefordert, in ihrer konzeptionellen und psychobiografischen Arbeit sowie in ihrer alltäglichen Pflege und Betreuung zwei Generationen von Pflegebedürftigen berücksichtigen zu müssen.
    Dabei sind die beiden sozialen Gruppen vertikal miteinander verwoben und horizontal eigenständig.
    Die Arbeit in den Pflegeeinrichtungen findet damit quasi im Fadenkreuz dieser beiden Dimensionen statt.

    Will heißen, dass die für beide Generationen vertikalen Linienführungen Großeltern – Kinder – Enkelkinder gekannt werden müssen, um beispielsweise mögliche transgenerationale Traumata diagnostizieren zu können.

    Will heißen, dass die für beide Generationen typischen horizontalen Gemeinsamkeiten, welche die Prägung der jeweiligen Generation zum Ausdruck bringen, Grundlage der Beziehungs-, Versorgungs- und Milieugestaltung sein müssen.

    Antworten

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Bitte füllen Sie dieses Feld aus.
Bitte füllen Sie dieses Feld aus.
Bitte gib eine gültige E-Mail-Adresse ein.
Sie müssen den Bedingungen zustimmen, um fortzufahren.

Weitere Beiträge, die Sie interessieren könnten