Blog Gerontopsychiatrie

Die Berlinale 2023 zeichnete den französischen Dokumentarfilm „Sur l‘Adamal“ mit dem Goldenen Bären aus. Dieser Film nimmt die Zuschauer mit in eine schwimmende Tagesklinik auf der Seine in Paris. Sie heißt Erwachsene mit psychischen Störungen willkommen. Der Film zeigt, wie diese Menschen in der Zeit ihres Aufenthaltes einen normalen Alltag leben. Der Film zeigt, dass trotz unterschiedlichster Lebenswelten gemeinsame Menschlichkeit psychisch kranke und normale Menschen miteinander verbindet. Der Film übermittelt das Gefühl der Besucher dieser Tagesklinik, Teil derselben Welt zu sein.

In diesem Sinne möchte unser Blog der Gerontopsychiatrie dazu beitragen, diese gemeinsame Menschlichkeit in der Pflege und Betreuung zu leben, also unseren Pflegebedürftigen das Gefühl zu geben, Teil derselben Welt zu sein, denn seine Würde verliert der Mensch nicht durch seine demenzielle oder psychische Erkrankung, sondern durch das Verhalten seines sozialen Umfeldes.

Unser Blog möchte deshalb

  • Ihnen als den Pflegenden und Betreuenden eine Plattform bieten, um sich auszutauschen über Ihre alltägliche Pflege- und Betreuungsarbeit mit gerontopsychiatrisch veränderten Pflegebedürftigen
  • Sie unterstützen durch fachliche Beiträge
  • Sie informieren über Interessantes aus Geronto- und Sozialpsychiatrie
  • Ihnen die Arbeit in den speziellen gerontopsychiatrischen Pflegeeinrichtungen der AWO vorstellen

Tipps & Links

Eine Frau Pflegekraft hilft zwei alten Frauen Seniorinnen beim Essen

Über den Autor Dr. Johannes Richter

Der Autor der Beiträge ist Vorstandsmitglied der AWO Sachsen sowie Ehrenvorsitzender des Kreisverbands Leipzig-Stadt, Dr. Johannes Richter.

  • 03/1990 Wahl zum Hauptkassierer im Gründungsvorstand der AWO Leipzig
  • 1990 bis 2013 Leiter des Pfle geheimes Thekla bzw. des AWO Gerontopsychiatrischen Pflegeheimes „Marie Juchacz“,
  • 1991 bis 1999 und 2004 bis 2008 Vorsitzender des AWO Kreisverbandes Leipzig-Stadt e.V., seitdem Ehrenvorsitzender
  • 2000 bis 2009 CERT – Qualitätsauditor beim TÜV Nord für die Arbeiterwohlfahrt und Lehrbeauftragter für Qualitätsmanagement in der Altenhilfe und Gerontopsychiatrie
  • 2005 bis 2013 Vertreter der sächsischen Liga der Freien Wohlfahrtspflege im Kollegium der Berufsakademie Sachsen, Vorsitzender der dortigen Studienkommission Sozialwesen und Mitglied mehrerer Findungskommissionen beim SMWK
  • Mitglied der Historischen Kommission der Arbeiterwohlfahrt in Sachsen
  • Beisitzer im Vorstand des AWO Landesverbandes Sachsen e. V.

Aus seinem Selbstverständnis heraus beschäftigte sich Dr. Richter mit gerontopsychiatrischer Pflege und Betreuung sowie Validation und definiert die Begriffe wie folgt:

Gerontopsychiatrie beschäftigt sich medizinisch und sozial mit den demenziellen und den psychischen Erkrankungen sowie mit den demenziell – psychischen Mehrfachstörungen älterer Menschen.

Die Demenz in ihren verschiedenen Formen wie Morbus Alzheimer, vaskuläre Demenz, frontotemporale Demenz und Korsakow stellt das größte neurodegenerative Krankheitsbild dar.

Zu den im Alter anzutreffenden psychischen Erkrankungen gehören Depressionen, neurotische Angst- und Zwangsstörungen, Suchterkrankungen und Verwirrtheitszustände.

Unter demenziell – psychischen Mehrfachstörungen verstehen wir Demenzen in Verbindung mit o. g. psychischen Störungen bis hin zu wahnhaften Psychosen wie Bestehlungs-, Kontroll-, Schuld- oder Verfolgungswahn.

Die medizinische Gerontopsychistrie, welche die medizinisch indizierte Vorbeugung, Diagnose und Behandlung zum Gegenstand hat, wird ergänzt durch die soziale Gerontopsychiatrie. Sie beinhaltet den sozialen Umgang mit demenziell und psychisch erkrankten alten Menschen aus soziokultureller und aus psychosozialer Perspektive.

Die Versorgung entsprechend erkrankter Menschen wird durch eine gerontopsychiatrisch geprägte Pflege als auch durch eine reaktivierende Betreuung bei Demenz bestimmt.

Gerontopsychiatrisch geprägte Pflege geht über die körperliche Pflege hinaus. Sie wertschätzt die demenziell und psychisch erkrankten Menschen in ihren von uns verrückten, also fortgerückten und verschobenen Lebenswelten. Sie erfasst und respektiert diese Lebenswelten in ihrer Eigenständigkeit und Legitimität. Insofern bedingt sie eine spezielle Beziehungs-, Versorgungs- und Milieukultur. Mit der Validation und ihren verschiedenen Techniken besitzt sie die erforderlichen kommunikativen Möglichkeiten, die Pflegebedürftigen stets dort abzuholen, wo sie sich lebensweltlich gerade befinden.

Reaktivierende Betreuung erwächst aus dem neurodegenerativen Krankheitsbild der Demenz. Das bedeutet, in der Betreuung demenziell erkrankter Pflegebedürftiger auf deren Bedürfnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten zurückzugreifen, die als Ressourcen noch vorhanden sind und diese zu reaktivieren. Das bedeutet, die Betreuung auf die Ressourcen, Defizite und Lebenswelten einer jeden Bewohnerin und eines jeden Bewohners auszurichten.

Das psychobiografische Pflegemodell nach Erwin Böhm ist für diese personalisierte Arbeit eine wertvolle Unterstützung.

Validation ist von ihrer Philosophie her eine wertschätzende Haltung. Sie respektiert die Lebenswelten demenziell erkrankter Menschen in ihrer Eigenständigkeit und Legitimität. Gleichzeitig stellt sie eine Methode dar, um mit verschiedenen Techniken die kommunikative Möglichkeit zu schaffen, betroffene Menschen beispielsweise für Pflegearbeiten oder für eine reaktivierende Betreuung dort abzuholen, wo sie sich lebensweltlich gerade befinden.

Für uns normale Kommunikation ist mit demenziell Erkrankten nicht nur wegen ihrer von uns verrückten Lebenswelten nicht möglich, sondern wegen der Kommunikation an sich. Man kann nicht nicht kommunizieren. Selbst wenn man schweigt, kommuniziert man. Kommunikation beinhaltet nicht nur das gesprochene Wort, sondern auch Mimik, Gestik, Körperhaltung, Tonfall, Lautstärke, Sprechtempo usw. Menschen mit demenziellem Krankheitsbild sind unfähig zur geteilten Aufmerksamkeit, also gleichzeitig und angemessen all diese Reizgefüge zu verarbeiten.

Mit ihrer wertschätzenden Grundhaltung und ihren Techniken ermöglicht Validation Interaktionen mit demenziell Erkrankten. Voraussetzung ist, sich auf die Betroffenen zu konzentrieren, sich zu zentrieren und achtsam zu sein.

Wenn allerdings im Leben von Betroffenen die wirklichen Bedürfnisse und Fähigkeiten nicht ausgelebt werden konnten, wenn beispielsweise auf Wunsch des Vaters ein Beruf erlernt und ausgeübt worden war, der sogar im Widerspruch dazu gestanden hatte, dann muss dieses persönliche Dilemma gekannt und in der reaktivierenden Betreuung berücksichtigt werden, sonst sind Verhaltensauffälligkeiten bis hin zu Übergriffigkeit vorprogrammiert und auch durch Validation nicht auszugleichen.

Auf der Homepage des AWO Kreisverbands Leipzig-Stadt finden Sie weitere Ausführungen von Dr. Richter zum Umgang mit Demenz.